Ruphay möchte dazu beitragen, Brücken zwischen ihrer andinen und der europäisch-westlichen Kultur zu bauen. Dazu gehört neben dem Zeigen ihrer Musik auch ihre Kulturkritik und das Erzählen über Selbstverständnis, Lebensart, Denkweise, Philosophie und Glauben der Aymara und Quechua-Indianer.
Mario Gutiérrez:
Als ich im Jahre 1972 aus Bolivien, einem Lande der Dritten Welt, nach Europa kam, war ich sehr erstaunt über den europäischen Himmel, die Sonne, die Nächte – über die Menschen, die in großen und kleinen Städten lebten, und über die Landschaft, die von Land zu Land wechselte. Alles war und ist sehr verschieden von meiner Welt, meinem Himmel, meiner Sonne.
Ich kam nach Europa mit einer kulturellen Botschaft. Und als Leiter einer Gruppe, die die ursprüngliche, traditionelle Musik der bolivianischen Anden spielt, kam ich mit den verschiedensten Menschen in Berührung, lernte die verschiedensten Länder kennen und konnte viele Eigenheiten der europäischen Welt beobachten.
Der erste starke Eindruck, den ich hatte, war die europäische Jugend: in Dörfern und Städten traf ich immer wieder auf Jugendliche, 13-15 Jahre alt, die rauchten und nicht nur Bier, sondern viel schärfere Sachen tranken. In vielen Lokalen, wo der Zigarettenrauch einem die Tränen in die Augen trieb, habe ich eine gelangweilt herumhängende Jugend gesehen; sie saßen da, sprachen kaum miteinander, tranken und rauchten und machten auf mich den Eindruck, als wären sie uralt und ohne jede Hoffnung. Bei vielen Konzerten traf ich auf diese Jugend; viele kamen aus reiner Neugier auf uns zu, die meisten, weil diese seltsamen K1änge ihnen unbekannt waren, und viele brachte unsere andine Kleidung zum Lachen, weil sie anders ist als die europäische. …
Mir ist aufgefallen, dass die heutige Erziehung in Europa sich einzig für den äußeren, nicht für den inneren Menschen interessiert. Man fabriziert gute Arbeiter, man unterwirft die Jugendlichen einem strengen Ausleseverfahren, um hochqualifizierte, verantwortungsbewußte Fachleute hervorzubringen.
Die heutige Konsumgesellschaft interessiert sich nicht für den Menschen als geistiges Wesen. Die Technisierung und die Schnelligkeit aller Abläufe haben den Menschen in eine beängstigende Situation gebracht. Besonders unheilvoll wirkt sich die maßlose Ausbeutung der natürlichen Reichtümer aus, durch die man heute an vielen Stellen der Erde die ökologische Ordnung zerstört, ohne an die Lebensmöglichkeiten und die Lebensnotwendigkeiten einer künftigen Menschheit zu denken.
Europa, der kleinste Erdteil, hat es unternommen, unter dem Vorwand, seine sogenannte Universalkultur immer schöner, größer und reicher zu machen, alle Völker der Erde gewaltsam zu assimilieren und ihre Kultur und Tradition zu zerstören. Es zwingt ihnen sein Industrie- und Handelssystem auf und beglückt sie mit seinem Erziehungsmodell. Aber dieses europäische Modell ist auf den Einzelmenschen zugeschnitten, der kämpft und arbeitet, um sich einen Platz in der heutigen Konsumgesellschaft zu erringen: er lebt in einem isolierten Gehäuse, hat keine eigenen Wurzeln, besitzt keine Schöpferkraft, und, was das Traurigste ist, er singt nicht und tanzt nicht. Dafür wird er leicht von jedem Konsumzwang verführt. Von klein an, auf Schule, Gymnasium und Hochschule muss er sich einordnen und soll die Gewohnheiten der Industriegesellschaft übernehmen – einer Gesellschaft, die der Natur feindlich gegenübersteht, die sich außerhalb der natürlichen, kosmischen Ordnung gestellt hat.
Wir in den Anden gehen von dem Grundsatz aus: ein Volk, das nicht singt und nicht tanzt, ist ein totes Volk. Musik und Tanz sind, wie die Sprache, das Lebensblut des Geistes. Dieses Prinzip lässt uns verstehen, dass unser Planet die Menschen in den verschiedenen Breiten auf verschiedene Weise beeinflusst, völlig im Einklang mit der Natur. So entsteht eine große Vielfalt von Kulturen, die den Reichtum menschlichen Wesens ausmachen. Zu behaupten, der Mensch atme und esse überall auf der Welt auf die gleiche Art, das halten wir für einen schweren Irrtum. Diese Idee einer Universalkultur noch durch Aufzwingen eines Modells universaler Erziehung zu übertrumpfen – das ist nicht nur ein weiterer schwerer Irrtum, das ist unmöglich.
Während es in Europa zum täglichen Ritual gehört, sich anzusehen und anzuhören, was auf dem Fernsehschirm läuft, gibt es in anderen Weltgegenden, z.B. in den Anden, noch Riten einer verborgenen geistigen Teilhabe; während man sich in Europa die Musik oftmals nur anhört, wird in anderen Weltgegenden Musik gemacht. Das autochthone Volk der Aymara und Quechua, dem ich angehöre, hat, obgleich es in Bolivien und Peru die Mehrheit bildet, keine eigene Literatur und muss seine Kultur im Verborgenen pflegen und weitergeben; es lebte und lebt ständig in der Gefahr, dass seine Kultur und seine Traditionen verschwinden, da die herrschende Schicht ihr Staats- und Erziehungsmodell aus Europa bezogen hat. …
Die westliche Pädagogik muss beginnen, die kulturellen und erzieherischen Wertvorstellungen in anderen Ländern zu verstehen und ernstzunehmen. Nur so wird Europa den übrigen Völkern auf eine menschlichere Art begegnen können. …
Die andine Musik mit ihrer Pentatonik hat eine enge Beziehung zur Natur, sie ist kosmisch, ihr tief in der Gemeinschaft verwurzelter Charakter bringt die Verpflichtung mit sich, eine ausgewogene und harmonische Atmosphäre für das Zusammenleben der Menschen zu schaffen. Auf solchen Zusammenhängen beruht die andine Lebensform. …
Das schrieb Mario im Januar 1986. Heute würde er einiges sicherlich anders schreiben, denn:
In Bolivien sind die Aymara- und Quechua-Kulturen deutlich weniger als vor 30 Jahren vom Verschwinden bedroht, ihre Sprachen sind offizielles Schulfach und ihre Musik kann überall im Land gespielt und gehört werden. In Europa wird zumindest in einigen Gebieten und Schulen wieder deutlich mehr getanzt und gesungen, und es wird auch weniger geraucht.
Trotzdem erscheint die Botschaft der Ruphay aktueller denn je, denn das allgemeine Tempo, die Individualisierung, der Konsumwahn, die Ellbogenmentalität, der Einzelne und die Gesellschaft im permanenten Optimierungsrausch – das alles erscheint heute noch wesentlich stärker als vor 30 Jahren das Leben der Menschen in Europa und im globalisierten Internetzeitalter auch in den Anden zu bestimmen.